Sehr geehrter Herr Botschafter Wu Ken,
erlauben Sie mir, mich kurz vorzustellen. Ich war für die Vereinten Nationen von 1980 – 83 und von 1998-2003 in China tätig. In meiner Kapazität als UNDP Mitarbeiterin und bei meinem zweiten Aufenthalt als UN Resident Coordinator hatte ich die Gelegenheit in alle Provinzen Chinas zu reisen, und Projekte, die von uns unterstützt wurden, zu besuchen. Manchmal kam ich dabei in entlegene Gegenden, wo es damals nur zu Fuß weiterging. In diesem Zusammenhang bin ich auch mehrmals in Xinjiang gewesen, um unsere dortigen ländlichen Armutsbekämpfungsprojekte vor Ort zu sehen. Der Unterschied in Stimmung und Lage in der Provinz zwischen den frühen 1980iger und späten 1990iger Jahren war verblüffend.
Einerseits waren die Provinzverwaltung und viele Beamte zweisprachig geworden, andererseits war die Feindseligkeit der muslimischen Imame deutlich gewachsen. Gab es anfangs der 80iger Jahre nur alte Moscheen in der traditionellen Lehmbauweise, gab es am Ende der 90iger Jahre prunkvolle Moscheen mit Ziegelsteinen gebaut; wie ich hörte, mit Mitteln aus Saudi Arabien und anderen arabischen Golf Staaten finanziert. Frauen trugen wieder Schleier und nachts hörte man auf dem Land Gewehrschüsse, die aus feierlichem Anlass in die Luft abgefeuert wurden. Auch trugen auf dem Land Männer wieder den traditionellen Krummdolch im Gürtel. Uigurische Frauen angesichts dieser Entwicklungen bevorzugten chinesische Männer als Ehepartner. Aber solche Ehen wurden von den Imamen verboten. Diese kleine Liste mag genügen, um zu zeigen, dass die Gesellschaft in Xinjiang sich entwickelte und auch weiterhin entwickelt. Nicht alle Trends gehen in die richtige Richtung. Auch ich habe während meines Aufenthalts terroristische Anschläge erlebt, die dem Verlauten der Polizei nach von uigurischen Extremisten begannen wurden. Auch ich habe die unterschwellige Wut auf die chinesischen Autoritäten gespürt, und ganz sicherlich gab und gibt es Uiguren, die eine Unabhängigkeit der Provinz Xinjiang wollen. Ich teile so die Einschätzung der chinesischen Führung, dass es in der Provinz Kräfte gibt, die die Stabilität und den Frieden der Provinz und des ganzen Landes gefährden. Ich stimme allerdings nicht mit den Mitteln, die Regierung und Partei einsetzen, überein. Vor allem finde ich die Kommunikationsstrategie in und außerhalb Chinas in Bezug auf die islamistische Gefahr in Xinjiang völlig unangemessen.
Der Auslöser dieses Briefes ist der April Newsletter Ihrer Botschaft. Ich möchte auf die dort angeführten Argumente, die nun wirklich nicht sehr überzeugend sind, nicht eingehen. Stattdessen möchte ich skizzieren, wie man die Situation vielleicht sehr viel besser und dauerhafter in den Griff bekommen könnte:
- Es wäre sinnvoll, eine wissenschaftliche Situationsanalyse vorzunehmen, um darauf dann eine sinnvolle politische Strategie aufzubauen. Historisch war die islamische Gesellschaft in diesem Teil Zentralasiens/Chinas immer sehr liberal and aufgeklärt. Zurecht hat die Zentralregierung das Grabmal eines uigurischen Philosophen des 12. Jh. bei Kashgar aufwendig restauriert und wieder zugänglich gemacht.
- Als die Regierung/Partei in den 1990iger Jahren arabischen Ländern erlaubte, Moscheen in der Provinz zu bauen, wurde offensichtlich nicht beachtet, dass diese Länder nicht nur bauen, sondern auch ihre sehr viel dogmatischere und kämpferische Form des Islam in der Provinz verbreiten wollten. Religion ist in China Privatsache. Gut so. Aber eine kämpferische und aggressive Form religiösen Glaubens ist es nicht. Wir können davon ja auch in Europa und Deutschland ein Lied singen.
- Die Mehrheit der Uiguren ist an einem friedlichen Leben interessiert, insbesondere die Frauen. Die Uiguren sind ihrer Sprache und Kultur verpflichtet, und haben mit der Modernisierung chinesischer Prägung wenig im Sinn. Uiguren sind im Kern immer noch Nomaden, Viehzüchter, Händler und betreiben Landwirtschaft und Handwerk nur soweit wie nötig. Sie sind in dieser Lebensweise nicht einmalig, aber eben sehr unterschiedlich zu der Han chinesischen. Es geht also darum, einen modus vivendi zu finden, der beiden Interessen und Vorstellungen Rechnung trägt. Daran muss ständig gearbeitet werden. Aber nicht durch die Umerziehung von zig Tausend Uiguren. Ich lasse jetzt mal die Menschenrechtsaspekte beiseite. Entscheidend ist doch, einen Weg und Mittel zu finden, die zu einem friedfertigen Miteinander führen. Auch dafür gibt es erfolgreiche Beispiele; sogar gleich vor den Toren Berlins. Die slawischen Minderheiten der Wenden und Sorben haben über Jahrhunderte hinweg ihre kulturelle Identität bewahrt, und sind dennoch ein Teil der deutschen Gesellschaft geworden und haben die Herrschaft des deutschen Staates in all seinen Veränderungen über die Jahrhunderte hinweg anerkannt.
Zum Schluss möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. In der Hoffnung, dass Sie den Inhalt dieses Briefes in geeigneter Form an Beijing weiterleiten, möchte ich anregen, dass die Zentralregierung mit den Organisationen der Vereinten Nationen, die in Beijing vertreten sind, vor allem aber mit UNDP in Kontakt treten, um zu sehen, in welcher Weise man an einer Änderung der Politik in Bezug auf die uigurische Bevölkerung zusammenarbeiten kann.
Mit freundlichen Grüßen!
Dr. Kerstin Leitner