Die Vereinten Nationen – Brauchen wir sie?

Vor 75 Jahren, von April bis Juni 1945, wurden die Vereinten Nationen von Vertretern aus 50 Ländern in San Francisco ins Leben gerufen durch die Formulierung und Verabschiedung einer Charta „im Namen der Völker dieser Erde“. Am 24. Oktober hatten die Regierungen der Gründungsnationen die UN Charta ratifiziert. Damit waren die Vereinten Nationen geschaffen. Seitdem hat es immer wieder Kritik an der Organisation gegeben. Wobei diese Kritik nie ganz klarmacht, an wen sie im Einzelnen gerichtet ist. Am häufigsten wird den Vereinten Nationen vorgeworfen, dass sie internationale Probleme nicht erfolgreich lösen, dass die Organisationen parteiisch die Interessen von nur einigen Mitgliedsländern vertreten, und dass es riesige Bürokratien sind, die ineffizient arbeiten.

Ob dies stimmt oder nicht, lässt sich am besten klären, indem man die Frage stellt: „Was für eine Organisation sind die Vereinten Nationen eigentlich?“

Ein Verein der Nationalstaaten

Wenn man einen Vergleich sucht, dann ist vermutlich der beste, dass die Vereinten Nationen ein Verein sind. Sie sind ein Verein der Nationalstaaten dieser Welt, die dem Verein freiwillig beitreten, um gemeinsam, gleiche Ziele zu verfolgen, wie Konfliktlösungen ohne Kriege, Erhöhung des Lebensstandards der Menschen in allen Ländern, unterstützt durch internationale Zusammenarbeit, und der Schutz der Menschenrechte.

Obwohl im Namen der Völker ins Leben gerufen, ist die Wahrnehmung der Mitgliedsrechte und -pflichten an die Regierungen der Mitgliedsländer übertragen. Zu den Pflichten der Mitglieder gehört, Jahresbeiträge zu zahlen, zu den Rechten, wenn man mit der Führung des Vereins unzufrieden ist, dass Beiträge zurückgehalten werden oder auch der Austritt aus dem Verein. Im Falle der Vereinten Nationen schadet dies zwar der Organisation, aber dem unzufriedenen Mitglied meistens mehr, denn nach seinem Rücktritt hat es auch Mitbestimmungs- und Mitentscheidungsbefugnis verloren. Dieser Verein ist insofern sui generis, weil eigentlich alle Länder gerne Mitglied sein wollen.

Die Frage ist natürlich auch, was für ein Typ Verein sind die Vereinten Nationen? So eine Art TÜV oder eher ein Sportverein? Ein Fußballverein oder eher ein Leichtathletikverein mit vielen verschiedenen sportlichen Disziplinen? Aus meiner Sicht, sind die Vereinten Nationen eine Mischform aus beiden. Einerseits politischer TÜV, aber ohne eine vergleichbare Autorität, aber auch ein Sportverein, in dem viele verschiedene Disziplinen zur Geltung kommen, wobei, wie beim Sport,  die bevölkerungsstarken und wirtschaftlich reichen Länder deutlich mehr Chancen haben, in vielen Disziplinen anzutreten und Medaillen zu gewinnen.

Wie alle Vereine bestehen die Vereinten Nationen, aus den Mitgliedern, die sich normalerweise einmal im Jahr zu einer richtungsgebenden Versammlung treffen, dem Sekretär und dem Sekretariat, die im Laufe des Jahres die Geschäfte führen und Gremien, die mit gewählten Vertretern der Mitglieder in periodischen Treffen Beschlüsse der Mitgliederversammlung vorbereiten bzw. die Durchführung von gefassten Beschlüssen begleiten und überwachen. Auch hat der Club eine Art Vorstand in der Form des Weltsicherheitsrates, der täglich im Auftrag der Mitgliederversammlung die internationale Situation beobachtet und den Mitgliedern Bericht erstattet, sowie Beschlüsse fasst, wie Gefahren für internationale Sicherheit und Frieden begegnen werden können. Die Arbeit des Weltsicherheitsrates steht oft im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, meistens kritisch, bis ablehnend. Aber der Weltsicherheitsrat kann nur dann funktionieren, wenn das internationale,  politische Umfeld es erlaubt.

Die Entwicklung der Vereinten Nationen – eine vorläufige Bilanz

Wie bei allen Vereinen gibt es Stärken und Schwächen, gelungenes Vorgehen und fehlerhaftes. Es gibt interne und externe Gründe, die einen Erfolg oder Misserfolg bestimmen. Nicht anders ist es bei den Vereinten Nationen, wenn man sich die Entwicklung über die 75 Jahre seit ihrer Gründung ansieht. Wobei die Bilanz, die der 2. Generalsekretärs, Dag Hammarksjöld am 13.Mai 1954 zog, wohl auch heute noch gültig ist: „The United Nations was not created in order to bring us to heaven, but in order to save us from hell.“          

Aber schauen wir uns einige der Aspekte der Geschehnisse an. Nach dem Scheitern des Völkerbundes in den 1930er Jahren, war die Gründung ein Akt des politischen Mutes. Der neuerliche Versuch alle Völker dieser Erde vor dem Leiden kriegerischer Auseinandersetzungen zu schützen, ein Akt des Vertrauens in die menschliche Einsicht und Vernunft. 1918, nach dem Ende des 1. Weltkrieges, ergriff der US amerikanische Präsident Woodrow Wilson die Initiative, den Völkerbund zu schaffen. Aber die USA traten dieser Organisation nie bei. Seit 1941 unternahmen Winston Churchill, britischer Premierminister, und F.D. Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten, den erneuten Versuch. Dieses Mal traten die USA den Vereinten Nationen auch bei. Das war ein deutlicher Fortschritt, wenn auch in weiten Kreisen der amerikanischen Politik große Vorbehalten gegen die Vereinten Nationen bestehen blieben. Man hatte sich nicht aus der kolonialen Abhängigkeit befreit, um nun freiwillig einen Teil des nationalen Handlungsspielraumes an eine internationale Organisation abzugeben.

Zur gleichen Zeit mit der Schaffung der Vereinten Nationen änderte sich die geopolitische Situation. Waren im 2. Weltkrieg die USA und die Sowjetunion Alliierte gewesen, so wurden sie rasch nach dem Ende des 2. Weltkrieges unerbittliche Gegner. Beide wurden aber auch Mitglied in den Vereinten Nationen. Sowohl die USA wie auch die Sowjetunion wurden Ständige Mitglieder im Weltsicherheitsrat. Das chinesische Volk, das sich 1945 noch im Bürgerkrieg befand, wurde seit 1949 durch Taiwan vertreten, und Großbritannien und Frankreich repräsentierten die Bevölkerungen ihrer Kolonien, z.B. in Indien und Afrika.

Aber seit 1947 veränderte sich auch die Welt der Kolonien sehr schnell. Während es zum Kalten Krieg kam, der auch immer wieder zum heißen Krieg wurde (Korea, Vietnam) forderten Politiker in Afrika, Asien und Ozeanien ihre nationale Unabhängigkeit. Eine Welle der Dekolonialisierung rollte durch diese Kontinente, und schuf viele neue Nationalstaaten, die alle Mitglieder der Vereinten Nationen wurden. Das geopolitische Spiel der Kräfte wurde bestimmt vom Gegensatz zwischen den USA und ihren Verbündeten und der Sowjetunion und deren Verbündeten und nicht den Vereinten Nationen. Viele, gerade unabhängig gewordene Staaten entzogen sich dem Konflikt, indem sie eine Gruppe unabhängiger Staaten formten, die unter dem Namen der „Gruppe der 77“, der später auch China beitrat,  großen Einfluss auf die Debatten und das Geschehen in den Vereinten Nationen gewann. Die Sekretariate konzentrierten sich darauf durch technische Hilfe den Regierungen in den neuen Staaten zu helfen. Seit Mitte der 60er Jahre hatten alle VN Organisationen entwicklungspolitische Programme in den meisten Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und im arabischen Raum. Zusätzlich arbeiteten insbesondere Sonderorganisationen, wie die WHO, FAO, UNESCO  und die ILO daran internationale Normen und Standards zu setzen, die den internationalen Austausch regeln und in allen gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheit, Ernährung und Beschäftigung allgemein gültige Standards zur Wirkung bringen sollten.

Die politische Gemengelage in den ersten Jahrzehnten der Vereinten Nationen war damit komplex. Einerseits, wuchsen die Vereinten Nationen und weiteten ihre internationale Reichweite aus, andererseits erklärten die Führungen der beiden Länder, die die Gründung der Vereinten Nationen initiiert hatten, der Sowjetunion und ihren Verbündeten unerbittliche Feindschaft. Im politischen Tagesgeschäft dominierte immer dieser machtpolitische Kampf und erhielt die volle öffentliche Aufmerksamkeit. Dahinter verschwand, dass im Rahmen der Vereinten Nationen die „unversöhnlichen Feinden“ nebeneinander in VN Gremien und auf Konferenzen saßen und auch ohne Weiteres öfter zu Kompromissen fanden, um friedliche Entwicklung in der Welt voranzubringen.

Im geopolitischen Machtkampf zwischen Ost und West verhielten sich die Organisationen der Vereinten Nationen, insbesondere die Mitarbeiter der Sekretariate, neutral. Entweder man konnte einen Kompromiss brokern, oder man äußerte sich zu einem Konflikt nicht öffentlich. In nicht öffentlichen Sitzungen und Treffen mit den politischen Führungen sprachen VN Beamte und Beamtinnen bestehende machtpolitische Probleme zwar an, aber immer im Bemühen, und auch nur dann, um Lösungen zu finden und zu ermöglichen.

Wenn man also heute, 75 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen, eine vorläufige Bilanz ziehen möchte, so würde die wohl lauten, in vielen Bereichen gute bis sehr gute Erfolge, aber im Ganzen nicht durchschlagend erfolgreich.

Brauchen wir die Vereinten Nationen heute?

Vereine gewinnen an gesellschaftlicher Bedeutung oder sie verlieren diese. Sie verändern sich, oder sie stagnieren.

Dieselbe Problematik stellt sich für die Vereinten Nationen. Sie stellt sich umso dringlicher, weil seit 1989 die Skepsis gegenüber den Vereinten Nationen lauter geworden ist. In den USA setzte sich die politische Ansicht durch, vor allem wenn die Republikaner die Regierung bestimmten, dass man sehr wohl ohne die Vereinten Nationen leben könne. Sie wurden als zu teuer, zu ineffizient und überhaupt als bürokratisches Monster gesehen. Die Demokraten hielten dagegen, wenn sie an die Macht kamen, aber konzentrierten sich darauf, Reformen zu fordern und zu fördern, die die Vereinten Nationen organisatorisch schlanker und schlagkräftiger machten. Aber auch sie zögerten die VN in das Handeln der US Aussenpolitik einzubinden

Der einzige US Präsident, der nach 1989 zeigte, wie eine rechtlich korrekte und militärisch erfolgreiche Intervention aussehen kann, war Präsident Bush sen., der für das Eingreifen zum Schutz von Kuwait 1991, ein Mandat des Weltsicherheitsrates erlangte, um dann in einer Allianz mit anderen Ländern, militärisch die irakischen Truppen aus Kuwait zu vertreiben. Danach ließ die US Regierung die von den abziehenden irakischen Truppen in Brand gesteckten Ölbrunnen löschen. Er versagte sich dem Ansinnen seiner Generäle, nach Bagdad weiterzumarschieren und Saddam Hussein abzusetzen. Seine Begründung: dafür gäbe es kein Mandat des Weltsicherheitsrates.

Gut 12 Jahre später sah sein Sohn, Präsident George W. Bush, das anders. Er griff den Irak ohne ein Mandat des Weltsicherheitsrates an. Als daraufhin der damalige VN Generalsekretär, Kofi Annan, diesen Angriff als völkerreichswidrig kritisierte, wurde er bis zum Ende seiner Amtszeit zur persona non grata in Washington. Und wie reagierten die anderen Mitglieder des Vereins? Sagen wir: Die Mehrheit der Mitglieder des Vereins Vereinte Nationen duckte sich weg. Ohne ein deutliches Eintreten für die Prinzipien der VN Charta sprachen sie sich weder für noch gegen die US amerikanische Irakpolitik eindeutig aus. Selbst Deutschland, das sich mutig dem US amerikanischen Anfrage widersetzte, an der Invasion teilzunehmen, nannte in erster Linie innenpolitische Gründe. Man ließ also den Generalsekretär Kofi Annan ziemlich im Regen stehen.

Stattdessen wurden andere Themen in den Vordergrund gestellt: Schutz der Menschenrechte, Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, Umweltschutz, insbesondere Verlangsamung des Klimawandels und des Verlustes an Biodiversität.

Kofi Annan sah das Abdriften der machtpolitischen Kräfte von den Prinzipien der VN, und er stemmte sich dagegen, wenn auch vergeblich. Sein Nachfolger Ban Ki Moon versuchte es nicht einmal. Er setzte in erster Linie auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte. Zwar sind das Pariser Abkommen von 2015 zum Klimaschutz und die Verabschiedung der Agenda 2030 ein Erfolg, aber angesichts der sich entwickelnden Frontstellungen, die die USA, China, Russland und andere Länder gegeneinander einnehmen, höchstens ein Trostpflaster. Der heutige Generalsekretär befindet sich auf einem verlorenen Posten. Selbst für seinen Vorschlag, während der Covid 19  Pandemie eine allgemeine, weltweite Waffenruhe durch den Weltsicherheitsrat auszurufen, erhielt er keine Unterstützung seitens des Weltsicherheitsrates, da sich China und die USA über die Rolle der WHO stritten. Was allerdings in diesem Zusammenhang von zweitrangiger Bedeutung war..

Um die Frage zu beantworten: brauchen wir die Vereinten Nationen heute, muss erst einmal die Frage gestellt werden, wollen wir die Vereinten Nationen?

Wollen wir die Vereinten Nationen?

Im Zeitalter eines erstarkenden Nationalismus nicht nur in den USA, sondern in vielen anderen Ländern, selbst in denen, die sich für eine enge internationale Vernetzung und zunehmender Interdependenz aussprechen, ist das Grundanliegen der Vereinten Nationen fast lahm gelegt. Zwar gehen alle Organisationen und Institutionen ihren Geschäften nach, aber nicht nur Präsident Trump fragt, ob dies eine sich selbsterhaltende Bürokratie ist, die für das Geld, das sie kostet, einen geringen, wenn überhaupt einen Gegenwert produziert.

Themen wie soziale Toleranz, Akzeptanz von kulturellen Verschiedenheiten, Chancengleichheit für alle ohne Ansehen von gesellschaftlichem Status und Herkunft, Verringerung der Kluft zwischen arm und reich, die Gleichstellung von Frauen, Erhaltung bzw. Wiederherstellung natürlicher Kreisläufe, Verlangsamung der Erderwärmung, Schutz von ethnischen Minderheiten, um nur einige der Ziele der Agenda 2030 zu nennen, werden heute zwar politisch als Ziele angestrebt, aber für eine breite Öffentlichkeit sind sie zu kompliziert und weit weg von ihren täglichen Herausforderungen. Wir befinden uns in einer Situation, wo wir die Fähigkeit auch einmal Andersdenkenden zuzuhören, verloren haben, und sind so in einem politischen Klima gelandet, das nur noch Spaltung und tiefe Gräben erzeugt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die neoliberale Langzeitperspektive tatsächlich viele Schwächen hatte, die es zu überwinden gilt.

Um dies zu erreichen, brauchen wir einen Wettbewerb von Ideen und Konzepten. Wir brauchen unterschiedliche organisatorische und institutionelle Strukturen, die den Traditionen in den Ländern Rechnung trägt, aber immer dabei solide Lösungen von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen im Auge behält. Spätestens mit der Verabschiedung der Agenda 2030 wissen wir, dass alle Länder die gleichen Probleme, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, haben. Damit werden diese zu globalen Problemen, die aber national und manchmal regional (EU) angegangen werden. So sind also nicht nur alle Länder, i.e. Vereinsmitglieder der VN, mit gleichen Problemen konfrontiert, sondern sie können auch voneinander lernen. Ein solches Lernforum braucht es. Und das sind die Vereinten Nationen für die große Mehrheit der Mitgliedsländer. Gleichzeitig fördern die Vereinten Nationen internationale Zusammenarbeit , wo sie spontan auf bilateralem und/oder kommerziellem Wege nicht entsteht. Sie dienen auch als Friedensmonitor und Friedensbewahrer dort, wo eine neutrale Organisation diese Mission übernehmen muss, und die Mitgliedsländer eine solche VN Friedensmission mehrheitlich beschließen.

Es wird übrigens nicht einen Lösungsweg geben, der für alle gilt. Das ist den Unterschieden zwischen den Ländern und ihrer Geschichte und ihren Traditionen geschuldet. Was zählt, ist, dass wir alle das gleiche – globale – Ziel anstreben. Brexit, der Zusammenhalt der EU und post-Corona Herausforderungen werden dabei eine entscheidende Rolle spielen, ob wir zu einem neuen globalen Narrativ finden, dass diese Einheit bei aller Verschiedenheit schlagkräftig werden lässt.

Wir brauchen die Vereinten Nationen!

Nun gibt es außer den politischen Schwergewichten wie nationale Regierungschefs, natürlich auch andere politisch wichtige und einflussreiche Kräfte. Zum einen gibt es Mitgliedsländer, wie die skandinavischen Staaten, die unbeirrbar die Ziele der Vereinten Nationen verfolgen. Es gibt eine umfangreiche internationale nichtstaatliche Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und im kulturellen Leben, die eine koordinierende und moderierende öffentliche Autorität wünschen, die ohne Vorurteil, Parteinahme und eigenem Interesse jedem eine Chance gibt in einem fairen internationalen Wettbewerb. Das muss nicht heißen, dass es nicht auch andere internationale Foren (G7, G20) geben kann, aber allgemeine Gültigkeit von Beschlüssen kann eben nur erlangt werden, wenn die Mitglieder der Vereinten Nationen einen Beschluss gefasst haben.

Unter Kofi Annan begannen die Vereinten Nationen sich durch Partnerschaften mit Unternehmen, internationalen Nichtregierungsorganisationen, Künstlern und Wissenschaftlern neu aufzustellen. Nicht alle Regierungen haben dies begrüßt oder gutgeheißen, aber mehrheitlich haben die Mitgliedsländer diese Öffnung gebilligt.

In den kommenden Jahren wird es darum gehen, wie diese Öffnung hin zu einem großen Spektrum von Interessenvertretern institutionell in den Strukturen der Organisationen verankert wird, und wie viel politisches Gewicht man dann den Gremien der Vereinten Nationen zu geben bereit ist, um die Geschicke der Menschheit zu gestalten in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit nationalen Regierungen. Eine ideale Möglichkeit bietet gerade die Covid-19 Pandemie. Hier könnte man testen, wie eine solche erweiterte Runde von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft zu bindenden Beschlüssen kommen könnten. Um eine Therapie und einen Impfstoff in allen Ländern und für alle zur Verfügung zu stellen, braucht es eine enge Zusammenarbeit und Übereinkunft von der Biotech und Pharma Industrie, die die Therapiemittel und Impfstoffe entwickeln, die Politik, die inzwischen dreistellige Millionenbeträge diesen Firmen für die Entwicklung zur Verfügung gestellt haben, und den medizinischen Diensten, öffentlich und privat,  die diese Mittel bei Patienten anwenden werden.

Wer anderes als die Vereinten Nationen könnten eine solche Vielzahl von Interessenvertretern an den Verhandlungstisch bringen? Auf der Seite der Vereinten Nationen wäre nicht nur die WHO betroffen, sondern auch andere Organisationen und sicherlich auch der Generalsekretär und möglicherweise der Weltsicherheitsrat. Denn, einige Regierungschefs haben schon öffentlich erklärt, dass Produkte, die mit nationalstaatlichen Geldern gefördert worden sind, nur im eigenen Land vermarktet werden sollen. Andere öffentliche Geber (Deutschland, China, EU) haben sich dagegen für einen internationale Verfügbarkeit ausgesprochen, und wollen diese medizinischen Produkte als „global pubic good“ behandeln. Wer, wenn nicht die VN Organisationen könnten hier einen für alle Staaten akzeptablen Kompromiss zustande bringen?

Auf absehbare Zeit werden die Vereinten Nationen ein Verein der Nationalstaaten bleiben. Das muss aber nicht heißen, dass nicht neuen Mitgliedern eine wichtige Rolle im Verein gegeben wird. Vielleicht gelingt es sogar am Ende der Corona Pandemie den Tenor internationaler Politik zu ändern hin zu mehr Offenheit und Kompromissbereitschaft. Dann könnte auch die Einberufung einer Allgemeinen Konferenz ins Auge gefasst werden, so wie es Artikel 109 der VN Charter vorsieht:

„Zur Revision dieser Charta kann eine Allgemeine Konferenz der Mitglieder der Vereinten Nationen zusammentreten; Zeitpunkt und Ort werden durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung und durch Beschluß von neun beliebigen Mitgliedern des Sicherheitsrates bestimmt.“

Eine solche Konferenz war alle 10 Jahre vorgesehen. Sie hat bisher nie stattgefunden. In der sich entwickelnden polyzentrischen Welt wird es keine Supermacht mehr geben, sondern mehrere regionale Machtzentren. In dieser Entwicklung wächst die Bedeutung des kollektiven Sicherheitsmandats der Vereinten Nationen. Um seiner Aufgabe gerecht zu werden muss daher der Weltsicherheitsrat neu konstituiert und mit mehr Autorität ausgestattet werden, damit er, sozusagen wie ein „politischer TÜV“, Regierungen überprüfen und, wenn nötig Reparaturen anmahnen kann, die nicht er, sondern die dafür zuständigen „Werkstätten“, z.B. Gesetzgeber, Gerichte, politische Parteien in den jeweiligen Ländern durchführen müssen. Sollten solche Reparaturen nicht zeitgerecht durchgeführt werden, sollte der Sicherheitsrat die Autorität haben, einer nationalen Regierung die Verwaltungshoheit des Landes zu entziehen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Eine zeitlich befristete UN Verwaltung kann dann die Bevölkerung mit staatlichen Leistungen unter der Aufsicht des UN Trusteeship Councils versorgen, bis nationale Politiker sich geeinigt haben auf eine nationale, funktionsfähige Regierung.

In diesem Zusammenhang könnte ein aussagekräftiger Test sein, ob es dem Weltsicherheitsrat gelingt, die politischen Auseinandersetzungen in Syrien, Jemen, Libyen und Venezuela auf einen nichtkriegerischen Weg zu bringen. Ganz neue Wege müssen hier gegangen werden. Die internationale Politik ist noch nicht an diesem Punkt angekommen, aber das sollte uns nicht hindern, über neue Wege nachzudenken und diese zu fordern und zu fördern.

Autor: Kerstin Leitner

siehe Webseite

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