Brauchen wir die Vereinten Nationen?

Vor 75 Jahren, von April bis Juni 1945, formulierten und verabschiedeten Vertreter aus 50 Ländern in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen „im Namen der Völker dieser Erde“. Am 24. Oktober 1945 hatten die Regierungen der Gründungsnationen die UN Charta ratifiziert. Damit waren die Vereinten Nationen geschaffen. Seitdem hat es immer wieder Kritik an der Organisation gegeben. Wobei diese Kritik nie ganz klarmacht, an wen sie im Einzelnen gerichtet ist. Am häufigsten wird den Vereinten Nationen vorgeworfen, dass sie internationale Probleme nicht erfolgreich lösen, dass die Organisationen parteiisch die Interessen von nur einigen Mitgliedsländern vertreten, und dass es riesige Bürokratien sind, die ineffizient arbeiten.

Ein Verein der Nationalstaaten

Wenn man die Vereinten Nationen organisatorisch einordnen will, kann man sie als einen Verein der Nationalstaaten charakterisieren, dem diese freiwillig beitreten, um gemeinsam gleiche Ziele zu verfolgen, wie Konfliktlösungen ohne Kriege, Erhöhung des Lebensstandards der Menschen in allen Ländern, unterstützt durch internationale Zusammenarbeit, und der Schutz der Menschenrechte. Diese Charakterisierung ist deshalb wichtig, weil sie viele der Erfolge wie auch der Misserfolge ins rechte Licht rückt.

Die Entwicklung der Vereinten Nationen – eine vorläufige Bilanz

Nach dem Scheitern des Völkerbundes in den 1930er Jahren, war die Gründung ein Akt des politischen Mutes. Der neuerliche Versuch alle Völker dieser Erde vor dem Leiden kriegerischer Auseinandersetzungen zu schützen, ein Akt des Vertrauens in die menschliche Einsicht und Vernunft.

Zur gleichen Zeit mit der Schaffung der Vereinten Nationen änderte sich die geopolitische Situation dramatisch. Waren im 2. Weltkrieg die USA und die Sowjetunion Alliierte gewesen, so wurden sie rasch nach dem Ende des 2. Weltkrieges unerbittliche Gegner. Aber trotz dieser Feindschaft gab es bis 1989 immer wieder Kompromisse zwischen den beiden Blöcken im Rahmen der Vereinten Nationen, die so, als neutrales Forum, durch Gespräche eine wirksame friedensstiftende Rolle spielten.

Parallel zum Kalten Krieg kam es seit 1947 zu einer Welle der Dekolonialisierung, die viele neue Staaten schuf, und neue Mitglieder für die Vereinten Nationen. Viele dieser Staaten wollten sich nicht in den Kalten Krieg hineinziehen lassen und bildeten die „Gruppe der 77“, der später auch China beitrat. Diese Gruppe unabhängiger Staaten gewann großen Einfluss auf die Debatten und das Geschehen in den Vereinten Nationen. Doch obwohl sie die Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentierten, waren sie angesichts ihrer schwachen Wirtschaftskraft nicht in der Lage, ihre Sicht der internationalen Politik durchzusetzen. Es war ein großes Versäumnis, dass die Mitgliedsländer eben nicht schon in den 60er und 70er Jahren Anpassungen an die veränderte Weltlage vornahmen, z.B. die Zusammensetzung des Sicherheitsrates grundlegend revidierten.

Die VN Organisationen konzentrierten sich darauf, durch technische Hilfe den Regierungen in den neuen Staaten zu helfen. Seit Mitte der 60er Jahre unterstützten sie, vielfach innovativ, gesellschaftliche Veränderungen. Viele Belege gibt es dafür. Ein Beweis möge hier stellvertretend genannt werden: Die rasante Entwicklung des zivilen Luftverkehrs wäre ohne die jahrzehntelange technische Hilfe von UNDP/ICAO langsamer und mit geringerer Sicherheit verlaufen. Andere Organisationen, wie die WHO, FAO, UNESCO und die ILO erarbeiteten internationale Normen und Standards, die den internationalen Handel und den allgemeinen Austausch zwischen den Mitgliedsländern ermöglichte. Denn die meisten Ländern konnten die allgemein akzeptierten Normen und Standards als nationale Standards übernehmen, und sich so in die Globalisierung eingliedern.

Wenn man also heute, 75 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen, eine vorläufige Bilanz ziehen möchte, so würde die wohl lauten, in vielen Bereichen des internationalen Zusammenlebens gute bis sehr gute Erfolge, aber im Ganzen nicht durchschlagend erfolgreich, weil einige Länder mächtiger waren als andere.

Brauchen wir die Vereinten Nationen heute?

Entscheidenden Ausschlag gab, dass nach 1989, die Regierungen der USA, egal ob von Republikanern oder Demokraten geführt, die Vereinten Nationen politisch marginalisierten. Darüber hinaus stärkte eine aggressive neoliberale Wirtschaftspolitik das Gewicht der Bretton Woods Institutionen und gewann bestimmenden Einfluss auf die Regierungen der Mitgliedsländer.

Unter der Führung von Kofi Annan stemmten sich die Vereinten Nationen gegen diese geopolitischen Trends: sie brachten Umweltzerstörung, Klimawandel, Menschenrechte, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten als globale Probleme ins Bewusstsein der Politik und Wirtschaft der Mitgliedsländer. Sie zeigten und zeigen, dass Frieden nur möglich ist, wenn wir uns diesen Herausforderungen stellen, und ein kollektives Sicherheitssystem stärken. Die eingangs gestellte Frage, ob wir die Vereinten Nationen brauchen, kann angesichts der globalen Herausforderungen also nur bejaht werden. Aber in der tagespolitischen Realität sehen wir andere Trends.

Die zu Beginn zitierte Kritik ist daher verständlich. Allerdings ist die Kritik weniger berechtigt in Bezug auf die bürokratische Größe der Organisationen als vielmehr in Bezug auf deren Verfahrensweisen. Wir brauchen sehr viel häufiger Konferenzen wie den Millennium Summit, wo sich 149 Staats- und Regierungschefs auf eine Vision für das 21. Jahrhundert einigten, als eine Konferenz, wie in Kattowitz 2017, wo man tagelang ein Regelwerk für das Pariser Abkommen von 2015 vereinbart. Dafür gibt es andere, effizientere Vorgehensweisen.

Die Basis der Vereinten Nationen vergrößern

Tatsächlich brauchen wir neue organisatorische und institutionelle Strukturen, und Verfahrensweisen, die den Traditionen in den Ländern Rechnung trägt. Spätestens mit der Verabschiedung der Agenda 2030 wissen wir, dass alle Länder die gleichen Probleme, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, haben. Damit werden diese zu globalen Problemen, die aber national und manchmal regional (EU) angegangen werden. So sind also nicht nur alle Länder, mit gleichen Problemen konfrontiert, sondern sie können auch voneinander lernen. Ein solches Lernforum sind die Vereinten Nationen für die große Mehrheit der Mitgliedsländer, aber hier ist noch Luft nach oben, um überall gute Praktiken und Erfahrungen zur Anwendung zu bringen.

Unter Kofi Annan begannen die Vereinten Nationen sich durch Partnerschaften mit Unternehmen, internationalen Nichtregierungsorganisationen, Künstlern und Wissenschaftlern neu aufzustellen. Nicht alle Regierungen haben dies begrüßt oder gutgeheißen, aber mehrheitlich haben die Mitgliedsländer diese Öffnung gebilligt. Denn es gibt einen bisher unbefriedigten Wunsch, die umfangreiche internationale nichtstaatliche Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und im kulturellen Leben, durch  eine koordinierende und moderierende öffentliche Autorität in einem fairen internationalen Wettbewerb zu führen. Wer anderes als die Vereinten Nationen können ohne Vorurteil, Parteinahme und eigenem Interesse jedem eine Chance in diesem internationalen Wettbewerb geben?

In den kommenden Jahren wird es darum gehen, wie diese Öffnung hin zu einem großen Spektrum von Interessenvertretern institutionell in den Strukturen der Organisationen verankert wird, und wie viel politisches Gewicht man dann den Gremien der Vereinten Nationen zu geben bereit ist, um die Geschicke der Menschheit zu gestalten in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit nationalen Regierungen. Eine ideale Möglichkeit bietet gerade die Covid-19 Pandemie. Hier könnte man testen, wie eine solche erweiterte Runde von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft zu bindenden Beschlüssen kommen könnten. Um eine Therapie und einen Impfstoff in allen Ländern und für alle zur Verfügung zu stellen, braucht es eine enge Zusammenarbeit und Übereinkunft zwischen der Biotech und Pharma Industrie, die die Therapiemittel und Impfstoffe entwickeln, der Politik, die inzwischen dreistellige Millionenbeträge diesen Firmen für die Entwicklung zur Verfügung gestellt hat, und den medizinischen Diensten, öffentlich und privat,  die diese Mittel bei Patienten anwenden werden.

Wer anderes als die Vereinten Nationen könnten eine solche Vielzahl von Interessenvertretern an den Verhandlungstisch bringen? Auf der Seite der Vereinten Nationen wäre nicht nur die WHO betroffen, sondern auch andere Organisationen (WTO, WIPO) und sicherlich auch der Generalsekretär und möglicherweise der Weltsicherheitsrat, denn nur der hätte die Autorität, Therapien und Impfstoffe zu einem „global public good“ zu erklären, wie es einige Regierungschefs schon öffentlich gefordert haben.

Auf zu weiteren 75 Jahren mit gestärkten Vereinten Nationen

Es wird oft gesagt, wenn es die Vereinten Nationen nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wir müssen die Vereinten Nationen nicht untergehen lassen, so wie der Völkerbund unterging, um dann eine neue Weltorganisation zu gründen. Aber wir müssen sie neu aufstellen und fit für die heutigen Herausforderungen machen.

In der sich entwickelnden polyzentrischen Welt wird es keine Supermacht mehr geben, obwohl es viele Stimmen gibt, die China als eine sich bereitmachende Supermacht sehen. Wie dem auch sei, es wird voraussichtlich mehrere regionale Machtzentren geben. In dieser Entwicklung braucht die Welt ein funktionierendes kollektives Sicherheitssystem. Wer aber anderes als die Vereinten Nationen koennte dies koordinieren?

Nicht nur der Weltsicherheitsrat muss neu konstituiert und mit mehr Autorität ausgestattet werden, damit er, sozusagen wie ein „politischer TÜV“, Regierungen überprüfen und, wenn nötig, Reparaturen anmahnen kann, die nicht er, sondern die dafür zuständigen „Werkstätten“, z.B. Gesetzgeber, Gerichte, politische Parteien in den jeweiligen Ländern durchführen müssen. Sollten solche Reparaturen nicht zeitgerecht durchgeführt werden, sollten die anderen Mitgliedsländer dem Sicherheitsrat die Autorität geben, einer nationalen Regierung die Verwaltungshoheit des Landes zu entziehen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Eine zeitlich befristete UN Verwaltung kann dann die Bevölkerung mit staatlichen Leistungen unter der Aufsicht des UN Trusteeship Councils versorgen, bis nationale Politiker sich geeinigt haben auf eine nationale, funktionsfähige Regierung. Außerdem sollten die Mitgliedsländer die 5 Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates deutlicher in die Pflicht nehmen. Dass es dem Rat erst nach Monaten gelang, die Forderung des Generalsekretärs für einen allgemeinen Waffenstillstand während der Covid-19 Epidemie zu unterstützen, ist in der Tat ein Armutszeugnis der Regierungen, die im Rat als Staendige Mitglieder vertreten sind. Wir können dies nicht weiter hinnehmen.

Die Welt ist heute anders als vor 75 Jahren. Aber die Mitglieder des Vereins „Vereinte Nationen“ haben versäumt, ihre Arbeitsweise anzupassen. Trotzdem: die Erfolge der letzten 75 Jahre geben die Hoffnung, die Misserfolge, die es auch gegeben hat und gibt, zu vermeiden. Wir, die Bürger dieser Erde, müssen es nur mehrheitlich wollen und uns dafür einsetzen.

Autor: Kerstin Leitner

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