Afghanistan – War alles umsonst?

In den vergangenen Tagen konnten wir uns der schrecklichen Bilder vom 9. September 2001 nicht erwehren, ebenso wenig wie die Bilder vom Chaos am Kabuler Flughafen nach dem 15. August 2021 vergessen. Wir wissen, dass beide Daten in engstem Zusammenhang stehen. Die Stimmen mehren sich, die das militärische und politische Engagement in Afghanistan in den letzten 20 Jahren als Fehler, Fehlschlag, Demütigung des Westens, kurz als eine einzige Katastrophe bezeichnen.

Aber stimmt dies? Hier ein paar Zahlen die ein anderes Bild zeigen:

In den letzten 20 Jahren hat sich das pro Kopf Einkommen in Afghanistan verdoppelt. Die Lebenserwartung ist um 9 Jahre gestiegen, etwa 9mal mehr Kinder gehen zur Schule als 2001, davon 3,6 Millionen Mädchen. Trotzdem ist die Einkommensarmut noch weitverbreitet, sie wird auf 72 Prozent der Bevölkerung geschätzt.

Finanziert wurden diese Verbesserungen weitestgehend mit und durch finanzielle Unterstützung von außen. 2020 betrug der Anteil der entwicklungspolitischen Hilfe etwa 40 Prozent des afghanischen BIP. 75 Prozent der Staatsausgaben für Erziehung, Gesundheit und öffentliche Investitionen wurden durch diese ausländischen Zuwendungen finanziert. Sicherlich eine Situation, die man nicht als nachhaltig betrachten kann.

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban hat der IWF die Auslandsreserven des  Landes eingefroren und die Weltbank Zahlungen aus dem Afghan Restruction Trust Fund eingestellt. Über die Folgen hören wir täglich in den Nachrichten: ein Kollaps der Banken und Geldmangel in privaten Haushalten. Wenn diese Blockaden anhalten, gehen die Vereinten Nationen davon aus, dass die Armut in der Mitte des kommenden Jahres etwa 98 Prozent der Bevölkerung betreffen wird.

Wenn man es bei dem umfassenden Rückzug und der Isolierung des Landes belässt, dann zeichnet sich das Schreckensbild einer großen humanitären Katastrophe für die afghanische Bevölkerung ab, selbst dann wenn die Nachbarländer wie China, Pakistan, Iran und Russland eine engere Zusammenarbeit anbieten werden, Zu sehr sind die gewachsenden Strukturen des Landes zerrüttet durch die 50 Jahre Bürgerkrieg, als dass ein Wiederaufbau aus eigener Kraft wahrscheinlich erscheint. Erst wenn man sich die Zukunft vom Blickwinkel einer Fortsetzung der entwicklungspolitischen Bemühungen ansieht, ergibt sich ein Bild mit Möglichkeiten für den notwendigen Wiederaufbau.

In einem kürzlichen Pressebriefing hielten die Regionaldirektorin von UNDP für Asien und den Pazifischen Raum, Kanni Wignaraja, und der UNDP Vertreter in Kabul, Abdallah Al Dardari, eine Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit nicht nur für nötig, sondern auch für möglich.

Dabei plädierten beide insbesondere im ländlichen Raum auf der lokalen Ebene aktiv zu bleiben. Die Unterstützung von Frauen, die oft den Erhalt und die Versorgung ihrer Familien als Kleinunternehmerinnen sicherstellen, ist dabei von besonderer Bedeutung. 70 Prozent der afghanischen Wirtschaft wird von Klein- und Kleinstunternehmen getragen. Von diesen sind wiederum 70 Prozent in den Händen von Frauen.

Deshalb haben die Organisationen der Vereinten Nationen, die im Land tätig sind, und auch nach dem Abzug der internationalen Truppen vor Ort blieben, Programme entwickelt, die der wirtschaftlichen Absicherung der Bevölkerung, vor allem auch der Beschäftigung von jungen Arbeitslosen dienen sollen. Mehrfach wurde in dem Pressebriefing betont, dass die Arbeit auf dieser lokalen Ebene weiterhin möglich ist. Übergriffe von bewaffneten Kräften gegen die Zivilbevölkerung passieren, werden aber von den örtlichen Machthabern geahndet und die Bedrohung unter Kontrolle gehalten. Angesichts des drohenden Kollapses der Wirtschaft und der anhaltenden Dürre ist humanitäre Hilfe zwar notwendig, um Hunger und weitere Landflucht zu vermeiden, aber entwicklungspolitische Zusammenarbeit muss ebenfalls sofort ausgebaut werden.

Es wird nicht leicht sein, den Blickwinkel der Medien und der Politik in diese Richtung zu lenken und zu halten, sowohl im Ausland wie in Kabul, um die Aufmerksamkeit auf die entwicklungspolitischen Probleme zu konzentrieren.  Die Konzentration in der Berichterstattung auf gewalttätige Vorkommnisse, Machtkämpfe und die Reduzierung der internationalen Politik vor allem des Westens auf machtpolitische und sicherheitspolitische Aspekte verbunden mit humanitärer Hilfe reichen einfach nicht aus, um das Elend der afghanischen Bevölkerung zu lindern und langfristig zu überwinden. Jeder UN Appell an gutwillige, aber skeptische Geber, humanitäre Hilfe zu finanzieren, sollte deshalb begleitet werden von einem Appell, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit wieder aufzunehmen wie oben beschrieben.

Wie Außenminister Maas aus Anlass der letzten Geberkonferenz für humanitäre Hilfe zu recht betonte, ist diese Hilfe ohne Auflagen, denn sie soll das Überleben der Menschen sichern. Entwicklungspolitische Zusammenabeit geht darüber hinaus, und ist nicht wertfrei oder bedingungslos. Bei diesen Verhandlungen das richtige Augenmaß und Kompromissbereitschaft zu finden, wird sowohl für die Geber wie für Kabul wichtig sein. Zum Beispiel sollten wir nicht nur mit der Taliban verhandeln, Ortskräfte auszufliegen, sondern diese zu schützen und einzubinden in den Wiederaufbau. Die Afghanen und Afghaninnen, die dann die Entscheidung treffen zu bleiben, sollten über die deutsche Entwicklungshilfe finanzielle und technische Hilfe bekommen, um ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Wiederbelebung zu leisten und die Lebensgrundlage ihrer Familien zu erhalten.

Wir dürfen das Engagement von Soldaten und Soldatinnen und von Entwicklungshelfern in den vergangenen Jahren nicht klein reden, und ihnen suggerieren, das alles umsonst war. Wir müssen die Komplexität der heutigen Welt akzeptieren, und entsprechend handeln. Nationale Außen- und Sicherheitspolitik, multilaterale Politik und entwicklungspolitisches Engagement können und müssen unterschiedliche Gangweisen haben. Nur dann können wir den Tod von 59 Soldaten und Soldatinnen, die in Afghanistan gefallen sind, ehren, und erreichen, dass die Investitionen der Vergangenheit in eine friedliche Entwicklung Afghanistans nachhaltig Früchte tragen werden.

Der youtube link zum Pressebriefing ist:  https://youtu.be/4K7_UfRzeog

Autor: Kerstin Leitner

siehe Webseite

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